Gottesdienst am Sonntag Reminiszere mit unserer Pfarrerin Esther Böhnlein - 5. März 2023

Esther Böhnlein
Bildrechte Böhnlein

 

 

Predigt:

"Bist du denn bescheuert?"

Predigttext: Markus 12,1-12

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde,

Sonntagabend habe ich wie ca. 9 Millionen andere Menschen in diesem Land einen festen Termin: Um 20:15 Uhr sieht man erst einen roten Bildschirm, dann ein Augenpaar und schließlich steht es in weißen Buchstaben groß da – der ARD Krimi „Tatort“ beginnt. So unterschiedlich die einzelnen Folgen auch sind, so gibt es auch Szenen, die ein Muster aufweisen. Furchteinflößende Musik, schummriges Licht. Eine Person, die allein an einem ominösen Ort ist. Für die Zuschauer sind das alles Anzeichen dafür, das gleich etwas Schlimmes passieren wird. Und dennoch sitze ich jedes Mal gebannt vorm Fernseher und denke mir: „Nein, tu es nicht!“ oder „Geh da nicht rein“, „Mach die Tür doch nicht auch noch auf!“ oder ähnliches. Jedes Mal sind es Konstellationen, bei denen klar ist: Das muss jetzt schief gehen. Wie bescheuert kann man nur sein, hättest du doch die Tür lieber verschlossen gelassen oder wärst nichts nachts durch die Tiefgarage gelaufen.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag Reminiszere steht bei Markus im 12. Kapitel. Ich lese den ersten Abschnitt vor:

Und er fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs nähme. Da nahmen sie ihn, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. Abermals sandte er zu ihnen einen anderen Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. Und er sandte einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie.

Genau hier ist der Moment, an dem ich den Besitzer des Weinbergs gern schütteln möchte. Auch ihm möchte ich – wie den Personen im Tatort – einfach nur zurufen: Bist du denn bescheuert? Wieso schickt der gute Herr denn Knecht um Knecht zu den Mietern des Weinbergs, also den Weingärtnern, wenn diese jeweils mit schlimmen Verletzten oder gleich gar nicht mehr zurückkommen? Als Hörerin des Bibeltexts weiß ich: Ja, das muss jetzt schief gehen. Wie bescheuert kann man nur sein – aber es nützt nichts, ich lese weiter:

Da hatte er noch einen, den geliebten Sohn; den sandte er als Letzten zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen (Ps 118,22-23): »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen«? Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon.

Es ist schief gegangen. In letzter Konsequenz hat der Weinbergbesitzer seinen geliebten Sohn geschickt, aber auch den haben sie umgebracht. Eine sehr unvernünftige Annahme zu denken, dass die Pächter den Sohn nicht umbringen würden. Zwei Ideen hierzu:

  • Der Weinbergbesitzer könnte seinen Sohn gerade deswegen geschickt haben. Weil er über höher gestellte Befugnisse verfügt haben könnte als die vorab gesandten Knechte.
  • Und die Tötung des Sohnes könnte wiederum damit zu erklären sein, dass die Gruppe davon ausgegangen sei, dass der Vater bereits verstorben sei und damit keine Erben mehr leben würden.

Zumindest ein bisschen plausibler wird das Geschehen so für mich. Aber selbst, wenn die Erklärungen Licht ins Dunkel bringen, der Ausgang bleibt der Gleiche. Die in Gang gekommene Spirale von Gewalt und Mord findet ihren brutalen Höhepunkt in V.9 unseres Predigttextes:

 Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben.

Am Ende sind bis auf den Besitzer des Weinbergs alle tot. Aber auch er hat zahlreiche Knechte und sogar seinen geliebten Sohn verloren.

Jesus erzählt die Geschichte von den bösen Weingärtnern als ein Gleichnis. Das heißt: Es soll damit etwas veranschaulicht werden. Es geht nicht um die Akteure und die Handlung selbst, sondern sie fungieren als ein Bild, das entschlüsselt werden muss.

Der Weinbergbesitzer handelt unvernünftig. Spätestens nach dem zweiten Knecht hätte ihm klar sein müssen: So geht das nicht weiter. Er hätte sich Hilfe holen müssen oder andere Maßnahmen ergreifen müssen, um den Spuk ein Ende zu bereiten. Hat er aber nicht. Er hat stattdessen langmütig gehandelt. Das heißt: Er hat die Ereignisse ruhig und beherrscht ertragen und abgewartet, was als Nächstes passieren würde.

Egal wie sehr ich dieses Gleichnis auf den Kopf stelle: Ich bleibe an der Unvernunft hängen. Besser gesagt: An eben dieser der Langmut, mit der der Weinbergbesitzer handelt. Im Gleichnis mag der Besitzer für Gott stehen. Er ist es, der die Situation langmütig aushält. Er gibt seinem Gegenüber Möglichkeit zur Umkehr, zur Reue und zur Wandlung. Er arbeitet nicht mit Druck und Gewalt, sondern hofft auf Einsicht und Gerechtigkeit. Egal, wie laut ich von der Seitenlinie rufen mag: Bist du eigentlich bescheuert?

Genau darin liegt der Knackpunkt. Mein menschlich-rationales Verständnis für Langmut kommt an eine Grenze. Die göttliche Langmut hat demgegenüber keine Grenze. Gottes Langmut ist keine Luxuseigenschaft, die er sich eben leisten kann. Nein, sie entspricht seinem innersten Wesen. Die Langmut Gottes ist seine Liebe, sein Vertrauen, sein Mut in das scheinbar Verlorene – uns Menschen.

Und deswegen komme ich auch immer wieder an den Punkt, an dem ich rufen möchte: Bist du bescheuert? Weil Gottes Barmherzigkeit mit menschlicher Rationalität eben nicht zu fassen ist. Gottes Barmherzigkeit ist für mich nicht nachvollziehbar, weil menschliche Barmherzigkeit Grenzen kennt. Gottes Barmherzigkeit hat also nichts mit Vernunft oder Unvernunft zu tun. Sie ist voller Liebe. Und göttliche Liebe ist eben anders als menschliche Leben. Wie der Apostel Paulus schreibt: „Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand.“

Dennoch ist die Predigt noch nicht ganz am Ende. Wir haben gehört, dass am Ende des Gleichnisses bis auf den Besitzer des Weinbergs alle tot sind. Sogar seinen geliebten Sohn hat er verloren, klar: der steht für Jesus. Und tatsächlich ist es ja genau das, was in unserer Lebenswelt Realität ist: Jesus ist vor knapp 2000 Jahren als Gottes geliebter Sohn am Kreuz gestorben. Und auch wir müssen eines Tages alle sterben.

Am Ende des Gleichnisses steckt aber noch etwas, es ist ein Zitat aus Psalm 118:

»Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen«?

Wird ein Stein verworfen, dann hinterlässt er eine Lücke. Jesus ist am Kreuz gestorben. Er hat eine Lücke hinterlassen. Aber die Konsequenz daraus war nicht, dass Gottes Barmherzigkeit an eine Grenze gestoßen ist. Nein, sie hat stattdessen an Fahrt aufgenommen. Gottes Liebe, sein Vertrauen, seinen Mut, den er in uns setzt – gegen aller menschlicher Vernunft finden sie kein Ende. Gottes Barmherzigkeit reicht stattdessen über den Tod hinaus, auch hier: keine Grenze – entgegen aller menschlicher Vorstellungskraft. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alles Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.