Predigt:
Prädikantin
Gabriele Hantke
"Den Nächsten nicht übersehen, sondern liebevoll sehen"
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.
Amen.
Lasst uns miteinander in der Stille um den Segen des Wortes Gottes und der Predigt bitten. (Stille)
Der Herr segne Reden und Hören. Amen.
Vor 2 Wochen habe ich einen Bordstein übersehen – und natürlich hat es mich „strecksdalängs“ auf die Straße gelegt. Noch während ich mich sortiert habe und schaute, ob alle Knochen heil geblieben sind, sprangen schon 3 Leute dazu und kümmerten sich um mich.
Mir ist bis auf ein paar blaue Flecken nichts passiert. Aber das, was ich wirklich gut fand, war, dass niemand weggeschaut hat! So oft hört man, wie Menschen vorbeigehen, wenn einer daliegt, dass Menschen Hilfe verweigert wird. Und dann erlebe ich dazu das positive Gegenbeispiel!
Daran musste ich u. a. denken, als ich mich mit dem Predigttext für den heutigen Sonntag beschäftigte:
Predigttext: Lukas 16,19-31
Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Ein Armer aber mit Namen Lazarus lag vor seiner Tür, der war voll von Geschwüren und begehrte sich zu sättigen von dem, was von des Reichen Tisch fiel, doch kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Gedenke, Kind, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein. Und in all dem besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber. Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Abraham aber sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.
Herr, gib uns ein Wort für unser Herz und ein Herz für dein Wort. Amen.
Jesus erzählt dieses Gleichnis, in dem der reiche Mann ziemlich schlecht wegkommt. Es ist ein Gleichnis aus dem Lukasevangelium. Und wer in diesem Evangelium nachliest, wird sehen, dass der Evangelist Lukas zuweilen über reiche Menschen recht kritisch schreibt.
So findet sich im Lukasevangelium auch das Gleichnis vom reichen Kornbauern, dem das ganze Anhäufen von Besitz auch nichts hilft und er damit sein Leben auch nicht verlängern kann. Oder das Gleichnis vom reichen jungen Mann, der sein ganzes Herz an den Reichtum hängt.
Aber sehen wir uns Jesu Gleichnis einmal genauer an!
Da ist Lazarus.
Viel wissen wir von ihm nicht. Er wirkt seltsam passiv. Er liegt vor der Tür des Reichen, krank ist er offensichtlich, auf Almosen angewiesen, scheinbar so schwach, dass er sich gegen die Hunde gar nicht wehren kann. Das scheint Jahre so zu gehen.
Wer ist Lazarus heute?
Lazarus sitzt in der Fußgängerzone und hat einen alten Kaffeebecher vor sich stehen und sieht viele Menschen an sich vorbeigehen, absichtlich wegschauen.
Lazarus ertrinkt im Mittelmeer, weil das Boot überfüllt ist und an der Einfahrt im rettenden Hafen gehindert wird.
Er steht in der Schlange an der Tafel, er lebt in den Trümmern in Syrien, er kommt am Bahnhof an nach beschwerlicher Flucht aus der Ukraine.
Lazarus ist das Kind mit den blauen Flecken, das immer wieder zusammenzuckt, wenn es laute Stimmen hört, das Kind, dessen Angst und Not keiner wahrnehmen will.
Lazarus ist die Frau im Seniorenheim, die keinen Besuch mehr bekommt.
Oder das Unfallopfer, an dem 10 Autos vorbeifahren.
Und, noch etwas erfahren wir über ihn: Sein Name lautet Lazarus.
In den Gleichnissen Jesu ist Lazarus der Einzige, der überhaupt mit Namen genannt wird! Das gibt zu denken!
Wie oft sind die Menschen, die in Not geraten sind, für uns eine namenlose, anonyme Masse. Ohne Namen zu sein – der Penner aus der Fußgängerzone, die Alte im 4. Stock, der Flüchtling… – das nimmt den Menschen ihre Würde.
Nicht bei Jesus! Der, dem es nicht gut geht, wird beim Namen genannt. Er wird als Individuum gesehen. Er ist nicht nur irgendeine Nummer, sondern ein Mensch mit Bedürfnissen, Eigenheiten, einer, den man kennt und erkennt.
So sollten wir auch mit unseren Mitmenschen umgehen. Jeder Mensch in Not ist etwas Besonderes, hat Aufmerksamkeit verdient.
Lazarus heißt auf Deutsch: „Gott hilft“.
Da steckt für mich verschiedenes drin:
Jesus macht deutlich: Gott erklärt sich solidarisch mit denen, die auf der sozialen oder gesellschaftlichen Leiter ganz unten stehen. Gott sieht sie.
Und Jesus zeigt: Gott verliert diese Menschen nicht aus dem Blick. Er wird ihnen, vielleicht nicht gleich und sofort, zu ihrem Recht verhelfen. Und nein, das ist nicht einfach eine Jenseitsvertröstung – aber Gott wird ihnen in seinem himmlischen Reich zu ihrem Recht verhelfen.
Blicken wir auf den reichen Mann.
Vielleicht ganz bewusst – er wird nicht beim Namen genannt. Wer ist dieser Reiche? Warum kommt er so schlecht weg?
Der Reiche – das könnte jeder und jede sein.
Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Jesus verurteilt nicht den Reichtum an sich.
Darüber verliert er kein Wort in seinem Gleichnis.
Was Jesus nicht für gut heißt, ist die Grundeinstellung des Mannes.
Er erfreut sich an seinem Reichtum. Und das muss eine Menge gewesen sein: Purpur und kostbares Leinen, darin kleidet er sich. Das konnte sich beileibe nicht jeder leisten. Die meisten Menschen trugen einfache ungefärbte Wollkleider, Leinen war da schon aufwendiger und viel angenehmer zu tragen, gerade bei den hohen Temperaturen. Und echte Purpurfarbe war das Luxusgut schlechthin; um1 kg Stoff mit dem teuersten Farbstoff der Welt zu färben, brauchte man Farbe im Wert von umgerechnet 2500 €! Vielleicht würde man heute von dem erzählen, der handgenähte Schuhe aus edlem Leder trägt, und sich von Armani, Dior oder Vivian Westwood einkleiden lässt.
Was er über seinem Reichtum aus dem Blick verliert, sind die Menschen, denen es nicht so gut geht. Er kann Lazarus nicht übersehen haben, der tagtäglich vor seiner Tür liegt. Seine Hunde haben ihn auch nicht übersehen! Seine Besucher, seine Gäste müssen ihm von dem elenden Menschen erzählt haben, an dem sie vorbeigehen mussten. Er muss gehört haben, wenn Lazarus um Essen, um Hilfe gebeten hatte – es gab schließlich keine Fensterscheiben und Schallschutzfenster! Und doch – es scheint ihn einfach nicht berührt zu haben.
Und das ist der eigentliche Skandal!
Davor will Jesus seine Zuhörer damals und heute warnen. Wenn es euch gut geht, überseht nicht die, denen es nicht gut geht! Macht sie nicht zu Namenlosen!
Welche Erklärungen, welche Ausreden hat der Reiche, dass er Lazarus nicht hilft?
Keine Zeit? Wichtige Geschäfte? Was bringt mein kleiner Beitrag schon? Sollen doch erst mal die anderen? Ich weiß ja eh nicht, was ich tun kann, soll?
Hier im Lukasevangelium finden wir die Folgen mit drastischen Bildern erzählt.
Lazarus, der in Abrahams Schoß liegt, der reiche Mann, der Höllenqualen leidet.
Dabei geht es Jesus nicht darum, uns ein besonders gruseliges Bild von der Hölle zu malen.
Er erzählt dieses Gleichnis, weil er seine Zuhörer damals und uns heute ermahnen und ermuntern will, unser Leben so zu gestalten, dass wir das eben nicht erleben müssen. Dass wir den Sinn unseres Lebens eben nicht verfehlen.
Ja, einmal mag es ein „zu spät“ geben. Aber wir haben auch Zeit unseres Lebens unendlich viele Möglichkeiten zur Umkehr. Und die werden wir brauchen, denn es wird immer wieder Situationen geben, in denen wir falsch handeln, in denen wir unserem bedürftigen Nächsten nicht gerecht werden. Dann gilt für uns, was Jesus auch in seinen anderen Gleichnissen und in seinem ganzen Leben und Handeln immer wieder deutlich macht: Wir dürfen umkehren, Gott gibt uns immer wieder die Chance zum Neuanfang. Und genau dazu ruft Jesus die Menschen mit seinem Gleichnis.
Abraham aber sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.
Dieser Hinweis Jesu muss seine Zuhörer damals treffen. Mose und die Propheten, das ist die jüdische Bibel. Ihr habt doch das Wort der Bibel, dass euch ganz klar sagt, wie ihr euch zu verhalten habt! Gott hat euch durch Mose die Gebote gegeben! Ihr sollt das Leben eurer Mitmenschen schützen und erhalten, so heißt es sinngemäß im 5. Gebot. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das Gebot der Nächstenliebe lehnt es nicht ab, dass wir gut mit uns selbst umgehen, aber wir dürfen darüber unsere Mitmenschen nicht aus dem Blick, aus dem liebevollen Blick verlieren! Und die Propheten haben immer wieder den Finger in die Wunde gelegt, wenn im Volk Gottes die Schwachen unterdrückt und missachtet wurden.
Und wir Christen können das erweitern. In den Evangelien macht Jesus, wie hier, aber auch an anderen Stellen, immer wieder deutlich, wie Nächstenliebe aussehen kann.
Wir haben Mose und die Propheten. Und wir haben Jesus. Sie weisen uns immer wieder an unseren Nächsten. Hören wir, immer wieder neu, darauf, damit unser Leben gelingt.
Amen.