Gottesdienst in St. Johannis am Ewigkeitssonntag (letzter Sonntag im Kirchenjahr) - 21. November 2021




Predigt:

Diakon Günter Neidhardt

"Nähme ich Flügel der Morgenröte..."

Liebe Gemeinde

„Wir wollten uns noch verabschieden, aber wir konnten es nicht mehr.“     
Wer um einen lieben Menschen trauert, der erinnert sich noch lange an die letzten Worte, die letzten Gesten, das letzte Zusammensein. . Es tut gut, zu wissen: „Ich war noch einmal da.“ Wo das möglich war, ist das tröstlich: „Ich war da, ich habe ihn, habe sie nicht allein gelassen“.

Manchmal aber stirbt ein Mensch so plötzlich, dass der Abschied erst am Sarg möglich ist; Oder: jede freie Minute ist man am Sterbebett und der Tod kommt gerade in dem Augenblick, wo niemand dabei ist – fast als hätten die Sterbenden genau diesen Moment gewählt.

„Wir wollten uns noch verabschieden, aber wir konnten es nicht mehr.“     
Im vergangenen Jahr war das besonders schlimm. Nicht zuletzt wegen „Corona“ war es oft nicht möglich, sich zu verabschieden oder wenn, dann nur für einen kleinen Kreis, oft vermummt hinter Masken und in Schutzkleidung. Das ist schwer zu ertragen: wenn man Nähe schenken will und nicht darf; wenn man ohnmächtig nur aus der Ferne dabei sein darf: mit guten Gedanken oder Gebeten den geliebten Menschen begleiten kann.

Die Gedanken an die Kranken und Sterbenden waren ja immer da: beim Aufstehen in der Frühe und beim Zubettgehen in der Nacht. Ob sie es gespürt haben, dass an sie gedacht wird? Und wie soll man sich selbst trösten, wenn man den geliebten Menschen allein lassen musste auf dem letzten Weg?

Vor vielen tausend Jahren hat ein Mensch Worte der Hoffnung gefunden, es ist der 139. Psalm:

HERR, du erforschest mich und kennest mich.

Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.

Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.

Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht alles wüsstest.

Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.

Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.

Diese Psalmworte sagen: keine und keiner von uns ist ganz allein. Einer ist da, der alle Entfernungen überwindet, der meine Gedanken von ferne kennt. Das tröstet mich. Das hoffe ich – für mich und uns alle: dass es da ein großes Du gibt, das ganz nah ist – bei mir und auch bei denen, denen ich nicht nahe sein kann.

Wohin gehen wir, wenn wir sterben? Eine Mitarbeiterin im Altenheim erzählt, dass sie oft im Zimmer, kurz nachdem ein Mensch gestorben ist, eine ganz besondere Atmosphäre spürt. Und dass es eine Zeit braucht, bis der Körper zum Leichnam wird, bis der Tote „gegangen“ ist. Früher hat man Rituale dafür gehabt: man hat das Fenster geöffnet, damit die Seele gehen kann.

Spätestens am Sarg, am Grab, der Urnenwand, beim Gang durch den Friedhof oder den Friedwald taucht sie dann wieder auf, die Frage: „Wo sind die Menschen jetzt, die ich geliebt habe, mit denen ich freundschaftlich verbunden war? Menschen, die im Geburtstagskalender mit ihren Namen stehen, denen ich aber nie wieder einen Gruß schicken werde. Menschen, deren Fotografien im Wohnzimmer hängen, die in meiner Fotogalerie auf dem Handy sind und bleiben, damit ich mich an ihr Gesicht, ihr Lachen erinnern kann: Wo sind sie? Wohin gehen wir, wenn das Leben hier zu Ende ist?

Der Psalmbeter malt sich das so aus:

Führe ich gen Himmel, so bist du da;

bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.

Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,

so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.

Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –,

so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag.

Finsternis ist wie das Licht.

Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß!

Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: Wenn ich aufwache, bin ich noch immer bei dir.

„Du bist da“, weiß der Mensch, der diesen Psalm gedichtet hat. „Du bist da“ und „Ich bin bei dir“. Begreifen kann man das nicht wirklich. „wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß!“

„Du bist da!“  Das ist auch einer der geheimnisvollen Namen Gottes: „Ich bin da“. Unvorstellbar wie es nach dem Tod sein wird. Einzig: Gott ist da. Gott ist im Himmel und im Totenreich, in der Morgenröte und hinter den Meeren, in der schwärzesten Nacht, und - selbst wenn ich wollte – Gott lässt mich nicht aus seiner Hand.

Das ist auch meine Hoffnung für die Verstorbenen, für die, die allein ihren letzten Atemzug machen mussten und für uns alle: sie sind nicht allein gewesen. Einer war da, hat sie an die Hand genommen und gesagt: Ich bin da.

Liebe Gemeinde,

wir leben noch. Für manche von Ihnen ist das heute schmerzhaft. Die Dichterin Mascha Kaléko hat das einmal so ausgedrückt: Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang, nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Dankbarkeit – so heißt es – würde helfen. Ja, denke ich, wenn sie nicht verordnet wird, sondern einfach kommen darf. Wenn zum Traurigsein irgendwann auch das Erinnern kommt: an die gemeinsamen Erlebnisse, an die letzte Feier oder das erste Kennenlernen. An das Lächeln oder die wachen Augen; an die Stimme, die man manchmal noch hört und die man nicht vergessen will. Dann kann leise Dankbarkeit wachsen/erwachen. Dankbarkeit für diesen wunderbaren Menschen.

Wegen der Pandemie gab es das gemeinsame Erinnern oft nicht. Die Beerdigungstermine wurden / werden nicht bekannt gegeben. Kaum Trauerbesuche,  kein Kaffee nach der Trauerfeier. Stille Grüße, Anrufe mussten ersetzen, was sonst beim Gespräch im Wohnzimmer, an der Gartentür sich ereignete: das Lächeln über das, was gewesen ist, über das Wunder dieses einzigartigen Lebens.

Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe.

Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.

Es war dir mein Gebein nicht verborgen, / da ich im Verborgenen gemacht wurde, da ich gebildet wurde unten in der Erde.

Deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.

Gibt es so etwas wie ein Schicksal? Ein Drehbuch, in dem alles bereits steht, den ewigen Plan? Ich weiß es nicht. Aber dass das Leben mehr ist, als die wenigen Daten auf dem Grabstein, das weiß ich. Dass das Leben mehr ist, als der kurze Lebenslauf mit seinen Höhen und Tiefen, das weiß ich. Dass hinter meinem Leben so etwas ist wie eine Idee, ein Wunder, ein göttlicher Liebeswillen –  das glaube ich.

Ich glaube, unser Leben, das Leben jedes einzelnen Menschen auf dieser Erde – egal wie alt er oder sie geworden ist – dieses Leben ist aufgehoben in Gottes wunderbarer Liebe.

Wenn es irgendwann sein darf, dann wünsche ich Ihnen, dass Sie das Wunder des Lebens sehen können: das Wunder des eigenen und das der Menschen auf Ihrem Lebensweg – wie lange Sie auch gemeinsam gehen konnten.

Ihr Lieben, mit der Einladung zu diesem Gottesdienst haben wir Ihnen eine kleine Faltkarte geschickt.

Auf der Karte steht ein Vers aus dem Psalm 39. Ein Vers, der Sie begleiten soll in die Zukunft, die anders ist als vor einem Jahr.

Die Zukunft ist offen – aber niemand muss allein gehen. Gott ist da. Im Himmel ganz oben, in der Tiefe bei den Toten, am Morgen des Lebens und am Abend: Gott ist da.

Führe ich gen Himmel, so bist du da;

bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.

Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,

so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.

Amen.