Gottesdienst in St. Johannis - 13.11.2016 (Volkstrauertag)

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St. Johannis

Predigt:
Diakon Neidhardt

"...dieser Zeit Leiden!"

Gnade sei mit euch und Friede, von Gott unserem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Amen. 

Liebe Schwestern, liebe Brüder, liebe neue Mitarbeitende in unseren Kindergärten, liebe Gemeinde, 

vor gut 30 Jahren schrieb der Philosoph und Soziologe, Professor Jürgen Habermaas ein Buch (oder besser eine Zusammenstellung von verschiedenen Aufsätzen) mit dem Titel: „Die neue Unübersichtlichkeit“. ER beschreibt eben genau diesen Blick, seinen Blick auf die Welt als unübersichtlich. Und ich denke wir können ihm zustimmen: Diese Welt wird tatsächlich / ist tatsächlich immer verwirrender, immer komplizierter, immer verrückter. Nun, Jürgen Habermaas hat die Welt schon 1985 als unübersichtlich charakterisiert. Gegenüber heute erscheinen uns aber, die Zeit vor dreißig Jahren geradezu übersichtlich, klar, strukturiert.. Nicht besser, nicht sicherer, aber doch eindeutiger. Da gab es zwei große Machtblöcke, Ost und West. Auf jeder Seite war man sich sicher, dass die Bösen auf der anderen Seite saßen und man selbst natürlich zu den Guten zählte. Man hatte ein Gegenüber, sozusagen eine Negativfolie, anhand derer man sich immer wieder klar machen konnte: die eigene Welt ist doch die bessere. Dass das alles auch nicht der Realität entsprach ist sicher wahr, aber die Welt teilte sich eben in zwei Lager. Und der Einfachheit halber haben wir das eben in Gut und Böse geteilt. 

Dann kam die Wende, Mauerfall, der Zerfall des Ostblocks, das Ende der Sowjetunion – und damit zunächst einmal eine gewisse Erleichterung. Die Bedrohung schien weg: kein kalter Krieg mehr, kein Wettrüsten, kein Ost gegen West, keine Gefahr eines Atomkrieges mehr. Doch diese Erleichterung währte nur kurz. Zwei Golfkriege, mit dem Kosovo-Konflikt Ende der 90er Jahre der erste „heiße“ Krieg in Europa seit einem halben Jahrhundert, dann der 11. September 2001 mit allem, was folgte, auch die Finanzkrise. Die Aufstände im Nahen und mittleren Osten, zunehmende Flüchtlingsströme. Einmarsch der Russen auf der Krim. Terroristische Bedrohungen. Und der Krieg in Syrien der nun geradezu ein schreckliches Beispiel für diese Unübersichtlichkeit ist. Selbst ausgewiesene Experten tun sich schwer zu verstehen, wer da gerade mit wem verbündet ist, gegen wen kämpft, wer welche Interessen verfolgt. Längst gilt nicht mehr: Der Feind meines Feindes mein Freund. Längst erleben wir, dass der Feind meines Freundes auch mein Freund sein kann, dass der Freund meines Freundes mein Feind sein kann…. 

Es ist heute Volkstrauertag und da ist es gut und richtig an die Opfer all dieser mörderischen Kriege zu denken. 

Es ist nachvollziehbar, dass Menschen angesichts der unübersichtlichen Lagen nach einfachen Antworten suchen. Klar haben wollen, was gut und was böse ist. Dass sie vermeintliche Übersichtlichkeit und vermeintliche Sicherheit damit erreichen wollen, dass man „Ausländer raus skandiert, Muslime verteufelt, wieder von Reinheit der Rasse faselt, Populisten wählt….(!) 

Ihr Lieben, wir werden die Welt nicht übersichtlicher bekommen. Auch nicht wenn die gewählt werden, die das versprechen. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, zurück in scheinbar gemütlichere / sichere Jahre. 

Nicht im großen Weltgeschehen und nicht im kleinen täglichen Leben. Beispiel gefällig: 

Früher, auch so vor 30 Jahren etwa, hatte man in der Regel zwei Möglichkeiten mit einem entfernteren Menschen in Kontakt zu kommen: Entweder schrieb man einen Brief, vertraute ihn der Deutschen Bundespost an und konnte einige Tage später dann auf demselben Wege auf eine Antwort hoffen. Oder man griff zum Telefon. Das stand meist fest im Flur, angesteckt an einer Buchse, der Hörer hatte ein Kabel und mittels einer eine Wählscheibe, wählte man die Nummer des Gesprächspartners, die man im Telefonbuch fand. Und wenn er denn zu Hause war, konnte man auf diesem Wege auch mit ihm sprechen – allerdings nicht lange, denn je weiter weg er lebte, desto teurer wurde das Gespräch, nach 18 Uhr kostete es jedoch nur die Hälfte. 

Heute dagegen ist es beinahe völlig egal, wo mein Gegenüber sich gerade befindet – per SMS, Facebook, WhatsApp und Co. erreiche ich ihn auch in Südamerika oder China, wenn es sein muss, kann Bilder schicken und empfangen, Sprachnachrichten versenden, ja per Bildschirm ganz direkt auch mit ihm reden und so weiter, und so fort. Kommunikation ist scheinbar völlig problemlos geworden, weltweit, grenzenlos. Wohl keiner möchte zurück zum Wählscheintelefon im Flur, auch wenn viele unter dem Druck der ständigen Erreichbarkeit leiden. 

Wir führen heute die neuen Mitarbeitenden in unseren Kindergärten in ihren Dienst ein. Und alle die schon etwas länger in den Kitas arbeiten werden ohne Probleme Beispiele nennen können die auch im Kindergarten eine neue Unübersichtlichkeit zeitigen. Die Unmengen gesetzlicher Vorgaben, Reglungen und Vorschriften. Bildungsanforderungen, Schulvorbereitung…..Die zunehmende Individualisierung der Kinder und der 

daraus folgende zunehmende individuelle Betreuungs- / Förderbedarf für den Einzelnen. Man mag das beklagen, darunter leiden. 

Man mag sich vielleicht in die Zeiten zurücksehnen als die Kinder „brav“ waren, still bastelten und mit der Kindergärtnerin ein fröhliches Lied sangen. 

Diese Zeiten werden nicht mehr kommen 

Das waren Beispiele für die Unsicherheiten / Unübersichtlichkeiten unserer Zeit. Beispiele für „dieser Zeit Leiden“ – um es mal mit einem biblischen Begriff auszudrücken. Wie damit nun umgehen? Wie lässt es sich leben in einer Welt, die so unübersichtlich, verwirrend und kompliziert geworden ist? Eine Antwort darauf lässt sich im Blick auf den Predigttext entdecken, der für den heutigen, vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, vorgeschlagen ist. 

Denn auch er spricht von „dieser Zeit Leiden“. Zu finden sind die Zeilen im Brief des Apostels Paulus an die Römer, 8, 18-23 (wie bei Paulus nicht ungewöhnlich: Kein Text der sich so schnell erschließt, halt auch ehr etwas unübersichtlich ist). 

„Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.“ 

Wie gesagt, Predigttexten, die aus Paulusbriefen stammen, auch diese Zeilen sind – vor allem nach einmaligem Hören –nicht ganz so einfach zu verstehen. Deshalb werfen wir erst einmal einem etwas genaueren Blick auf das, was Paulus da schreibt. 

Hintergrund ist die bedrohte Situation der Christinnen und Christen, die so um das Jahr 50 herum in Rom lebten. Auch diese Menschen erlebten ihre Welt – wenn auch aus ganz anderen Gründen als wir heute – als einen Ort, der nicht selten unübersichtlich, verwirrend und kompliziert, ja beängstigend war. Ständige Verfolgungen, permanente Angst vor einem Umfeld, das sie jagte und vernichten wollte – obwohl sie als christliche Gemeinde doch nun wirklich niemandem etwas taten –, all dies waren die Leiden der römischen Christen dieser Zeit. Und so stand auch in der römischen Gemeinde immer wieder die Frage im Raum, wie es sich angesichts all der Verrücktheiten, inmitten aller Unübersichtlichkeit und Verwirrtheit in dieser Welt überhaupt noch leben lässt. 

Die Antwort des Paulus darauf: Nehmt all das, was euch hier in dieser Welt bedrückt, nehmt „dieser Zeit Leiden“ nicht so schwer, sondern lasst euch tragen von der Hoffnung auf Erlösung, die uns durch Christus versprochen ist. Denn alle Sorgen und Nöte, alle Verwirrungen, die einen Christen, eine Christin in diesem Leben umtreiben, werden verblassen, wenn die Herrlichkeit erst einmal endgültig offenbar werden wird. 

Diesen Aufruf, den könnte man auch als eine Aufforderung zur Leugnung der Realität sehen, einen Aufruf zur Weltflucht und ein Vertrösten auf die Hoffnung im Jenseits (die uns hier alles erdulden lässt). Das meint Paulus aber nicht. Wäre es so, wären die ersten Christen wohl sehr schnell wieder verschwunden gewesen und mit ihnen der christliche Glaube. Sie hätten keine Wirkung entfacht. 

Nein Paulus redet nicht dem Rückzug aus der Welt das Wort. Er meint hier gerade das Gegenteil von Rückzug aus der Welt. Nicht Rückzug, Resignation, Schulter zucken, ist die Konsequenz aus der Gewissheit der kommenden Erlösung durch Jesus Christus. 

Es geht vielmehr um Befreiung – Befreiung von allen Ängsten, Nöten und Verwirrungen. 

Wenn wir auf Christus hoffen, oder besser noch: Weil wir auf Christus hoffen, brauchen wir nicht mehr an dieser Welt zu leiden. 

Weil wir auf Christus hoffen, gibt es Hoffnung für die Welt. 

Diese Hoffnung macht frei von Ängsten, weil wir die Gewissheit haben nicht alleine zu sein und weil wir wissen: Da kommt noch was, am Ende dieser Welt. 

Solche Freiheit, macht aktiv. Ohne Angst lässt sie einen der Welt entgegentreten, wie verrückt diese auch sein mag. Ohne Angst lässt sie einen im Sinne Gottes leben und wirken, so sehr es um einen herum auch lärmt und tobt. 

Mit anderen Worten: wozu Paulus die Christinnen und Christen in Rom, und uns alle auffordert, ist: zu leben, in dieser Welt – ohne Angst, ohne Verzweiflung, leben, immer getragen von der befreienden Gewissheit, bereits erlöst zu sein und als Kinder Gottes auf die endgültige Nähe zu Christus sicher hoffen zu dürfen. 

So, nur so, können wir leben in dieser Zeit der Leiden, in dieser Zeit der Unübersichtlichkeit. 

Als befreite Menschen verschieben sich unsere Maßstäbe. Als Befreite können, dürfen und sollen wir in dieser Welt wirken, zur Ehre Gottes, und 

immer wieder neu auch für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung eintreten. Und so Wirkung entfachen. 

Dafür eintreten, dass zumindest ein kleines Stück der Nähe Gottes, auf die wir hoffen, bereits in dieser Welt sichtbar und fühlbar wird. Wir können die Verwirrung hinter uns lassen, die uns so leicht ergreifen kann, abschütteln und schon in diesem Leben am Reich Gottes mitarbeiten – immer wieder neu. 

Das gilt auch ganz besonders für die Arbeit an den jüngsten unserer Gemeinde, durch die Mitarbeitenden in den Kindergärten. Es könnte so in eurer Dienstordnung stehen: „Tretet dafür ein, dass die Nähe Gottes, auf die wir hoffen, bereits in dieser Welt sichtbar und fühlbar wird. 

Das gibt Sinn: Der Arbeit, dem Leben, dem Mensch sein. 

Ich habe diese Predigt mit dem Zitat eines Philosophen begonnen. Mit dem Zitat eines anderen Philosophen will schließen. Der, leider schon verstorbene, Denker, Autor und späterer Präsident der Tschechischen Republik, Vaclav Havel, hat das, bezogen auf unser Leben hier, so formuliert: 

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung dass etwas gut ausgeht, sondern die Überzeugung dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht“. 

AMEN 

Und der Friede Gottes der höher ist als alle unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

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