Gottesdienst am Sonntag Sexagesimae - 31. Januar 2016

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St. Johannis, Curanum

Predigt:
Pfarrer Jörg Mahler

"Alles drin"

Predigttext: Hebräer 4,12-13
Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, und die Liebe Gottes, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde!

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig – ja, das stimmt, der Apostel hat recht: Die Bibel ist das meistverkaufte Buch der Welt, das Wort Gottes wird an jedem Sonn- und Feiertag von den Kanzeln in aller Welt verkündigt, Bibelkreise treffen sich, um das Wort Gottes gemeinsam zu lesen und nach seiner Bedeutung fürs eigene Leben zu fragen. Unzählige Menschen in Chören singen es voller Freude. Das Wort Gottes ist lebendig, es ist in unserer Welt unterwegs.

Und doch, wenn ich genauer darüber nachdenke, dann frage ich mich schon: Wird die Bibel denn auch so häufig gelesen wie verkauft? Bei uns in Mitteleuropa wohl eher nicht. Die meisten haben zwar eine Bibel, doch steht sie ungenutzt im Schrank. Und ja, das Wort Gottes wird an jedem Sonn- und Festtag verkündigt. Doch wie viele Menschen erreicht diese Verkündigung, wie viele kommen denn in den Gottesdienst? Schauen sie selbst, wie viele unserer knapp 3000 Gemeindemitglieder heute da sind. Das Wort Gottes ist lebendig, aber doch erreicht es viele nicht. Im Gegensatz zu vielen anderen Wörtern, die täglich in unser Bewusstsein dringen wollen, durch Radio, Fernsehen und Internet. Auf den ersten Blick gibt’s da attraktivere Worte: die preisgünstigsten Angebote in den kostenlosen Werbeprospekten, die Stars und wichtigen Leute in Talkshows, wo doch manchmal nur die Zeit todgeschlagen wird. Worte werden in unserer Zeit inflationär gebraucht, und müssen jedem noch so wichtigen oder unwichtigen Zweck dienen.

Viele halten angesichts der vielen modern herausgeputzten Worte die Bibel für ein verstaubtes altes Buch, und können sich nicht vorstellen, wie lebendig und kräftig sie sich im Leben auswirken kann. Aber das Gotteswort dringt wirklich ein in die Seele und den Geist eines Menschen, geht ganz tief hinein und verändert ihn zum Guten. Das Wort Gottes hat wirklich eine ungeheure Kraft, die in unser eigenes Leben überspringen kann.

Nur ein paar Beispiele:

Das Jahr 2016 ist noch jung. Durch dieses Jahr begleitet uns die Jahreslosung aus dem Buch des Propheten Jesaja, wo es heißt: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“. Gott ist wie eine Mutter: Eine gute Mutter sorgt sich um ihr Kind, steht in der Nacht so oft auf, um ihrem Baby Milch zu geben oder es zu trösten. Eine gute Mutter ist immer für ihr Kind da – in jedem Alter kann es mit seinen Sorgen kommen, wird in den Arm genommen und unterstützt. Gott ist wie so eine Mutter für uns, sagt die Jahreslosung. Und viele andere biblische Geschichten erzählen ganz anschaulich genau davon, und biblische Beter bezeugen das in den Psalmen. Wer solche Texte hört und liest, dem wird die Gegenwart Gottes ins Herz gelegt. Sie stärken unser Vertrauen darauf, dass er für uns da ist, sich bemerkbar macht in unserem Leben und uns mit seiner Kraft zur Seite steht. Ann Krankenbetten oder in schwierigen Lebenssituationen erzählen mir Menschen immer wieder, wie biblische Texte genau so wirken.

Ein zweites Beispiel: Da ist das wohl bekannteste Gleichnis Jesu, die Geschichte vom verlorenen Sohn: Durch sie hat schon so manch einer den Mut gefunden, von dem falschen Weg umzukehren, den Mut gefunden, auf einen Menschen wieder zuzugehen und um Verzeihung zu bitten. Und manch einer hat sich den barmherzigen Vater zum Vorbild genommen und sein steinernes Herz erweicht und verziehen.

Ein drittes Beispiel: Manche Menschen rackern sich im Leben ab. Kennen nichts als Arbeit. Die Geschichte des Weinwunders von Kana kann ihnen helfen zu sehen, dass es auch noch anderes im Leben gibt: Jesus hat Wasser zu Wein verwandelt, wenn auch erst auf Drängen seiner Mutter. Er hat die fröhliche Hochzeit mitgefeiert. Fest und Feier, die schönen Seiten des Lebens genießen – Jesus hat es getan. Sein Wundwunder lädt uns ein, es ihm gleichzutun.

Und da ist als viertes Beispiel die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus: „Steh auf!“ sagt Jesus zu dem Toten. „Steh auf“ sagt er uns, wenn wir wie tot in Sorgen gefangen sind. „Steh auf“ sagt er uns, wenn einmal unsere letzte Stunde geschlagen hat. Gottes Wort ruft zum Leben.

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig. Es hat die Kraft, unser Leben zu verändern, ihm eine neue Weite zu geben.

Ich habe hier einen Werbeprospekt der Supermarktkette „Real“. Seit Jahren wirbt sie mit dem Spruch „Einmal hin – alles drin“. Vielleicht haben Sie das auch schon gelesen oder im Radio gehört. Das ist doch eigentlich „die ideale Beschreibung der Bibel. Dort ist wirklich alles drin, was wir zum Leben brauchen. Und das ist real. Vielleicht müssen wir manchmal etwas genauer suchen. Aber lieber in der Bibel suchen, als an ganz anderen Stellen Dinge finden, die sich dann noch nicht als das Reale herausstellen.“ (Marcus Mockler, epd). In Gottes Wort können wir das finden, das uns zur Ruhe bringt.

Das Wort Gottes ist kräftig. Aber um seine Wirkung zu spüren, muss ich in Kontakt mit diesem Gotteswort kommen, muss es in mein Leben hineinnehmen. Im Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld haben wir vorhin gehört, wieviel Gotteswort ausgesät wird, wie oft es aber an seiner Entfaltung gehindert wird. Fällt es in unserem Leben auf den Weg und wird weggeweht, auf Stein und kann sich nicht verwurzeln, unter die Dornen und wird erstickt von den Sorgen oder Freuden des Lebens, oder auf fruchtbaren Boden?

Die Bibeltexte wollen mit unserem Leben zusammenkommen. Wir müssen uns dem Gotteswort aussetzen, wie kann es sonst wirken? Sich und das eigene Leben dem Gotteswort aussetzen - das geschieht in unseren Gottesdiensten. Aber v.a. auch zu Hause, wenn wir die Bibel einfach lesen – vielleicht nach dem ökumenischen Bibelleseplan. Oder aber, indem wir am Morgen einfach das Losungsbüchlein aufblättern, in welchem wir einen Vers aus dem Alten und einen Vers aus dem Neuen Testament für den Tag finden. Manchmal ist dieser Vers für den Tag zwar an sich richtig, sagt uns aber wenig für unser Leben. Manchmal, da trifft er haargenau in unsere Situation. Und manchmal, da gibt er uns zu denken, und entfaltet erst nach und nach seine Wirkung.

„Bibellesen muss uns eine Gewohnheit werden wie das Zähneputzen. Das Zähneputzen ist an manchen Tagen auch nur eine Gewohnheit – man denkt nicht groß drüber nach, ob man sich hinter besser fühlen wird, sondern man verspricht sich davon einen langfristigen Nutzen. Wir brauchen dieses Wort so dringend, um als Christen im Glauben zu wachsen und reifer zu werden. Ein Tee wird stärker, je länger man ihn ziehen lässt. Ein Christ wird stärker, je mehr er sich dem Wort Gottes aussetzt.“ (Marcus Mockler, epd).

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. 

Mit einem zweischneidigen Schwert wird das Gotteswort hier verglichen. Es scheidet Seele und Geist, Mark und Bein. Der Vergleich mit einem Schwert ist für unsere Ohren ungewöhnlich. Das Schwert steht für Kampf, Gewalt. Aber andererseits stimmt es doch: Wer sich dem Wort Gottes aussetzt, der riskiert Verletzungen. Gottes Wort macht sichtbar, was in uns ist. Vielleicht liegt auch darin einer der Gründe, warum manch einer lieber dem Wort Gottes aus dem Weg geht – weil er genau weiß, dass es ihn nicht so lässt, wie er ist, dass es die Wahrheit über uns aufdeckt, die wir lieber nicht wahrhaben wollen, weil es sein kann, dass das Wort Gottes von uns Umkehr fordert.

In der Ikonografie steht das Schwert auch für Recht und Gerechtigkeit – vor alten Gerichtsgebäuden ist es in Stein gemeißelt, und Christus, der Weltenrichter, hat es in der Hand. Auf diesen Weg von Recht und Gerechtigkeit will uns das Wort Gottes bringen.

Das Wort Gottes ist kräftig und schärfer als ein zweischneidiges Schwert.

Seine Schärfe hat es bewiesen, damals vor 500 Jahren, als Martin Luther seine Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg gehämmert hat. Die Reformation war eine Wortbewegung. Aus dem Wort Gottes hat Luther die Überzeugung gewonnen, dass einiges in der Kirche und im Glauben nicht passt. Allein durch das Wort haben sich Anhänger um ihn geschart und seine Entdeckungen verbreitet. Und so hat das Wort das Evangelium von der Gnade Gottes wieder aufgerichtet, gegen alle Widerstände von Papst und Kaiser.

Und im Jahr 1934 hat eine Gruppe von Menschen in einem kleinen Vorort von Wuppertal, in Barmen, angesichts des erstarkenden Nationalsozialismus erkannt, dass einiges, was da geschieht, dem Wort Gottes widerspricht. Und sie haben Leitsätze formuliert, von denen der erste lautet: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.". Ein Leitsatz gegen den Zeitgeist. Nicht Hitler, nicht Volk, nicht Rasse, sondern das lebendige Wort Gottes. Dieser Kreis der Bekennenden Kirche hat damit ernst gemacht, dass wir als evangelische Kirche eine Kirche des Wortes sind, und dass wir uns im Leben und in der Gestaltung unserer Werte an diesem Wort orientieren.

Das Wort Gottes wirbt mit dem Guten. Es stellt uns werbend, einladend z.B. die Früchte des Geistes vor Augen: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung – darauf kommt’s an! Das Gotteswort gibt uns aber auch ganz direkt gute Regeln mit wie die 10 Gebote, oder ermahnt uns eindrücklich, wie in vielen der neutestamentlichen Briefe, wo die Apostel Falsches beim Namen nennen und Umkehr fordern.

Das Wort Gottes ist kräftig und schärfer als ein zweischneidiges Schwert. Auch heute ist es nötig, dass dieses Wort Gottes hineingesagt wird in unsere Gesellschaft. Und das ist in allererster Linie die Aufgabe der Kirche, das Gotteswort auch da lautwerden zu lassen, wo es etwas zu sagen hat. Das Wort Gottes ist keine Politik, aber es will auch das Zusammenleben und die Gestaltung unserer Gesellschaft positiv prägen. Schwangerschaftsabbruch, weil das Kind ein Unfall war. Aktive Sterbehilfe ja oder nein oder wie genau? Eine Obergrenze für Flüchtlinge. In vieles kann oder muss sich das Gotteswort einmischen. Das Gotteswort tritt für den Schutz des Lebens unter allen Umständen ein. Doch ich habe oft den Eindruck, dass gerade unsere evangelische Kirche, die ja das Profil hat, die Kirche des Wortes zu sein, scharfe Worte vermeidet: weil man jedem gefallen will, weil man keinen vor den Kopf stoßen will. Im Hebräerbrief, da ist das Wort Gottes ein Wort, das vor den Kopf stößt, das keine Kompromisse kennt, sondern scharf wie ein zweischneidiges Schwert daherkommt. Christen kleben gerne einen Fisch hinten aufs Auto. Auf dem Kirchentag im Jahr 2007 in Köln, an dem ich damals teilgenommen habe, da haben die Initiatoren dem christlichen Fisch eine Haifischflosse verpasst: Denn der Fisch, der christliche Glaube, die Kirche kann nicht immer lieb sein. Es muss Unrecht benannt und Partei ergriffen und für die Schwachen eingetreten werden.

Nicht immer ist das Gotteswort Balsam. Manchmal ist es auch der Zahnarzt, der uns Schmerzen zumutet, damit nicht Schlimmeres kommt.

Was für die großen gesellschaftlichen Fragen gilt, das gilt auch für uns: Auch uns kann dieses Schwert treffen. Das Wort Gottes ist ein Richter der Gedanken und Sinne unseres Herzens, so heißt es in unserem Predigttext. Es schaut hinter unsere Maske. Es nimmt uns ernst mit dem was wir sind, und mit dem, was wir getan haben. Und das ist befreiend, weil wir so einmal unsere Maske abnehmen, hinter das schauen, wie wir unser Leben inszenieren und gerne nach außen darstellen. Das Gotteswort stellt uns in Frage, und das Problem ist: Wir wollen uns oft nicht in Frage stellen lassen. Ich muss mich erstmal trauen, mich mit dem Wort Gottes zu konfrontieren. Wer sich aber vor dem Wort Gottes nicht verschließt, wer sich auch auf das Kritische einlässt, das es mir und meinem Leben zu sagen hat, der wird verändert. Der wird eben nicht zu Grunde gehen wie einer, den das Schwert des Ritters trifft. Sondern der wird aufgerichtet, und Seele und Geist finden zu einer neuen Einheit. Und er findet zur Ruhe. Um die Ruhe geht’s in diesem 4.Kapitel des Hebräerbriefs. In diesem Kontext steht unser Predigttext. Der Apostel schreibt vom Wort Gottes, weil er will, dass wir alle zur Ruhe kommen:

So wie das Volk Israel damals nach 40 Jahren Wanderung durch die Wüste endlich im Gelobten Land zur Ruhe kam, so gibt es für uns eine Ruhe mitten im Hier und jetzt. Einmal hin – alles drin: In all unseren Lebensherausforderungen will das Gotteswort uns zur Ruhe bringen. Dem Hebräerbrief geht es aber auch um eine noch viele größere Ruhe: Das, was nach dem Tod auf uns wartet, und was andere biblische Schriften ewiges Leben oder Paradies nennen, das nennt der Hebräerbrief die Gottesruhe. Diese Gottesruhe schenkt uns das Gotteswort - weil wir uns von ihm haben auf den rechten Weg bringen lassen. Von dem Wort, dessen Zentrum der lebendige Christus ist, die fleischgewordene Liebe Gottes.

Ich ende mit einem Zitat des Freiherrn Adolph von Knigge, dem Kenner guten Benehmens. Er hat viel in der Bibel gelesen und einmal gesagt: „Biblische Texte helfen, das Leben gut zu gestalten.“. Ich ergänze: das eigene Leben, aber auch das Zusammenleben in der Gesellschaft. Genau das wünsche ich uns allen: Dass wir unser Leben mit der Bibel gestalten, und Gott uns spüren lässt, wie manches letztendlich dadurch leichter wird, und wie wir zur Ruhe kommen. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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